Der Minutenzähler

Die Bürozeit ist so zäh wie ein vergessenes Steak auf dem Grill. Morgens kann ich eine Zeitung durchblättern, das lenkt ab, aber lesen Sie mal stundenlang, wenn Sie beschäftigt aussehen wollen. Vielleicht kommt ja doch irgendwann jemand herein. In einer Viertelstunde kann ich gehen. Erst in 15 langen Minuten riskiere ich keine Abmahnung wegen Nichteinhaltens der Kernarbeitszeit. Da bin ich lieber vorsichtig. Ich, der Abteilungsleiter. Das steht zumindest auf meiner Visitenkarte. Bis zur Fusion mit unserem Wettbewerber vor viereinhalb Jahren hatte ich 15 Leute unter mir. Es sollte keine Kündigungen geben, hatten sie uns vorher gesagt, keine Entlassungen, und seitdem sitze ich da.

Ausrangiert

Ausrangiert. Offiziell habe ich meinen Job behalten, aber genommen haben sie mir Pflichten und Mitarbeiter, Telefon und Computer. Das andere Unternehmen hatte einen Abteilungsleiter mit ähnlichen Aufgaben wie ich, nur jünger, wohl frecher, vielleicht besser. Ihm haben sie meinen Bereich übergestülpt. Oder er hat ihn sich gekrallt. Wozu nach Gründen suchen? Die Räume nebenan sind leer, sie haben mich in diesen verwaisten Gebäudetrakt gesteckt, einen Leiter ohne Abteilung, nach knapp drei Jahrzehnten im Betrieb. Es wäre teuer, mich zu entlassen. Ein hübsches Sümmchen käme da zusammen, und sie müssten es ausgeben, denn ich lasse mir nichts zu Schulden kommen, bin immer da, zeige Arbeitswillen, auch wenn es ein gespielter ist, schließlich weiß ich, was sie planen. Sie lauern auf meine Fehler, wollen mich vertreiben, wie sie es nach der Fusion mit anderen Abteilungsleitern getan haben, und die sind allesamt gegangen. Stolz gebrochen, so nenne ich das, oder Mut zum Aufbruch, wie es in ihrer Sprache heißt. Heuchler!

Noch 14 Minuten

Noch 14 Minuten, dann kann ich das Büro verlassen. Ich zerknülle ein Blatt Papier von meinem Stapel, die Bögen bringe ich aus meiner Wohnung mit. Denken Sie bitte nicht, ich zerknitterte den Zettel irgendwie. In den letzten viereinhalb Jahren habe ich meine eigene Technik dazu entwickelt. Ich presse die Kugel, bis sie keine Luft mehr enthält, das ist wichtig für die Flugeigenschaften. Es erfordert Kraft und dauert lange, eine halbe Minute nehme ich mir dafür. Ich zähle bis 30 und drehe mich Richtung Papierkorb, fixiere die Öffnung, ziele sorgfältig, werfe das Bällchen hinein. Nicht zu stark, so dass es über den hinteren Rand fällt, und nicht zu schwach. Diese Wurftechnik habe ich perfektioniert. Wenn mein Papierball im Korb verschwindet, bin ich so stolz wie früher, wenn eine Besprechnung erfolgreich war, meine Mitarbeiter gute Ergebnisse vorgelegt, die Chefs uns gelobt hatten. Ich habe etwas geschafft, das nicht jeder hier im Betrieb beherrscht. Versuchen Sie das mal. Vielleicht werden Sie einen Ball in den Korb werfen, vielleicht sogar einen zweiten, einen dritten. Aber wahrscheinlicher ist, dass Ihre Kugel vor dem Eimer landet oder aber zu weit fliegt, über den Papierkorb hinaus auf die Fensterbank, auf den hellgrauen Schreibtisch, den dunkelgrauen Nadelfilz.

Alleine im leeren Gebäudetrakt

Wir wollen keine Kündigungen aussprechen nach der Fusion. Unsere Mitarbeiter sind uns wichtig, jeder Einzelne. Jaja. Sie liegen dem Unternehmen so sehr am Herzen, die langjährigen Abteilungsleiter, dass sie nach dem Zusammenschluss alleine in einen leeren Gebäudetrakt gesetzt werden, ohne Aufgaben, ohne Telefon, ohne Computer. Können Sie sich vorstellen, wie entwürdigend es ist, wenn die Firma, für die Sie jahrzehntelang geschuftet, für die Sie Ihre Ehe ruiniert haben, so mit Ihnen umgeht? Ich habe ausgerechnet, in welchem Winkel eine Kugel eines bestimmten Durchmessers abgeworfen werden muss, um in der Mitte des Papierkorbs zu landen. Mit Hunderten von Versuchen habe ich es belegt, mit Tausenden. Mir macht keiner so leicht etwas vor. Unsere Geschäftsleitung schon gar nicht. Diese Leute meinen, ich langweilte mich so unsäglich, dass ich den Betrieb verlassen, eines Tages zermürbt gehen werde, genau wie die anderen, aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Ich forsche hier an einem Gebiet, das unsere Top-Manager nicht kennen. Was wollen die mir schon von Papierkugel-Durchmessern und Wurfwinkeln erzählen? Ich nehme mir pro Bällchen eine gute Minute Zeit. Falten, zielen, werfen. Bis zur nächsten Kugel lasse ich ein Weilchen verstreichen. Niemand zwingt mich zur Eile. Pro Stunde werfe ich etwa acht Papierbälle, und im Laufe eines Arbeitstages an die 64.

In zehn Minuten

In zehn Minuten habe ich Feierabend. Heute ist die Zeit besonders zäh. Das war nicht immer so. Bis vor der Fusion bin ich von einer Besprechung zur nächsten gehetzt. Als ich noch Chef einer Abteilung mit 15 Mitarbeitern war, liefen mir die Stunden davon. Jetzt, wo ich das Unternehmen von selber verlassen soll, jetzt habe ich hier Zeit im Überfluss. Es ist, als bekäme ich die Lebensminuten zurück, die Lebensstunden, die bis vor viereinhalb Jahren in meinem vollgestopften Bürotag fehlten. Er hätte damals viel länger sein können, ich wollte noch mehr arbeiten. Damals. Ich habe mich neulich zu Hause dabei ertappt, eine Papierkugel zu pressen. In meiner Küche habe ich sie in den Mülleimer geworfen und mich geärgert, nur nach einer Berührung des vorderen Rands getroffen zu haben. Das muss besser werden.

Noch fünf Minuten

Ich schaue auf die Uhr, noch fünf Minuten. Früher hätte ich das, was ich heute erste Feierabendmöglichkeit nenne, gar nicht bemerkt. Bis vor viereinhalb Jahren, da hätte ich vielleicht zwei, drei Stunden nach diesem Zeitpunkt daran gedacht, nach Hause zu gehen. Wenn überhaupt. Hätte ich nicht noch an einer Präsentation gesessen, über einer Tabelle gebrütet, mit einem Mitarbeiter geredet. Wir wollen nach unserer Fusion keine Kündigungen aussprechen. Die Stimmen der Geschäftsführer auf der Betriebsversammlung höre ich noch wie heute. Unsere Mitarbeiter sind uns wichtig. Jeder Einzelne. Darum versuchen sie jetzt auch, mich auszuhungern in diesem leeren Büro.

Eine Minute

Noch eine Minute bis zur ersten Feierabendmöglichkeit. Mein Blick kriecht hinter dem Sekundenzeiger her, will ihn vorwärts schieben. Ich greife mir einen Papierbogen, zerknittere ihn. Ganz langsam. Zielen, werfen. Mitten hinein. Jetzt habe ich die Kernarbeitszeit sogar um eine Minute überschritten. Und da behaupte einer, ich ginge nachmittags zu früh nach Hause.