Stürzte die Seebrücke ein, stünde sie auf Wolkenbeinen? Die Frau sitzt im Sand, Kopf im Nacken, stellt sich vor, das Bauwerk neben ihr balancierte auf Wolken statt auf mächtigen Betonpfeilern. Stimmenfetzen von schräg oben, Lachen. Zwei Funktionsjackenträger im Partnerlook posieren Arm in Arm am Holzgeländer, Um-die-Wette-Grinsen im Selfiewahn.
Wenn Beton das Dauerhafte symbolisiert, das Stabile, Selbstverständliche, was bedeuten dann die Himmelsgebilde? In ihrer Sonntagsfantasie tänzelt die Frau wie auf Wolken durch den Arbeitstag, statt fünfmal pro Woche ins Institut zu schlurfen, als zerrte sie Betongewichte hinter sich her. Sie denkt an ihren Job im Labor, der sie schon lange nicht mehr ausfüllt. An Krankheiten, die alle Pläne zunichte machen. Denkt an dieses fragile Gerüst eines Lebens, das auf einmal zusammenbrechen kann. Und dann fehlt vielleicht die Zeit, etwas anderes zu tun. Die Frau ringt um Alternativen zur Stelle im Institut, aber ihr fallen keine ein, denn sie beherrscht vieles ein bisschen und nichts richtig außer ihrem Fachgebiet. Noch immer sitzt sie im Schatten der Seebrücke, starrt auf die Wolkenbeine. Versucht, in ihnen ein Zeichen dafür zu sehen, dass ihr eigener Ausstieg trotz unsicherer Bedingungen ein stabiles Fundament bilden kann.
Aber hätte sie den Job im Institut nicht, könnte sie sich nicht einmal diesen Ausflug an die Ostsee leisten. Da ist es wieder, dieses verdammte Sicherheitsgefühl! Plötzlich fällt ihr auf, dass zu ihrer Linken ein Betonpfeiler in die Luft ragt, der den Bau mit seinen steinernen Kollegen trägt – von wegen Wolkenbeine. Wie lang mag die Seebrücke wohl sein, was wiegen, wie viele Beton- oder Stahlbetonpfeiler mit welchem Mindestdurchmesser erfordern? Und wie tief müssen diese im Boden verankert sein? Solche Fragen würden die anderen Weißkittel im Labor wohl auch stellen. Vielleicht passt sie doch ganz gut dorthin. „Veränderungen brauchen mehr als ein Wolkenorakel“, murmelt die Frau. Steht auf, verlässt den Strand. Morgen früh muss sie um halb neun im Labor sein.