Picknick am Stadtstrand

Sie sitzt im Sand, die Knie angezogen, schmale Hände umklammern verblichenen Jeansstoff, ihr Blick folgt den neoprenverhüllten Surfern. Die Septembersonne schleudert ihre Strahlen vom Himmel, als wolle sie das Mittelmeer austrocknen. Drei Stunden und sieben Minuten hat ihr Zug von Valencia hierher gebraucht, das sind 11.220 Sekunden, die die Frau durch schmutzige Scheiben gestarrt hat, gefangen im Gedankenkäfig.

‚Hätte ich ihn wirklich in der Pension zurücklassen sollen? War es richtig, einfach zu gehen?‘

Angekommen am Hauptbahnhof Barcelona Sants, an einem Samstagmorgen gegen zehn vor zehn, ist sie lange durch die erwachende Stadt gehetzt, als könnten ihre rastlosen Füße die immergleichen Fragen niedertrampeln. Vorbei an der Universität, durch das gotische Viertel und die Gassen des ehemaligen Fischerquartiers Barceloneta, hinter denen ihr geliebter Strand liegt. Vor ihrer Ehe ist sie fast jedes Jahr für ein paar Tage nach Barcelona gereist, aber dann nicht mehr, ihm war die Stadt immer zu groß, zu quirlig. Pause im Sand. Langsam kommt sie zur Ruhe, lauscht dem Plätschern der Wellen, den Fetzen eines Schlagers, die der Wind aus dem Café an der Promenade heranträgt.

Sie ist mit dem Morgenzug geflohen, fortgelaufen vor seinen Demütigungen, um wenigstens die letzten Tage ihres Urlaubs genießen zu können. Doch es geht nicht nur um diese Reise: Sie will ihr Leben ab heute wieder selbst in die Hand nehmen, was sie fast verlernt hat. Ein Surfer, kaum mehr als eine schwarze Silhouette, schwankt, stürzt vom Brett. Er krabelt nach oben und steht auf, um der nächsten Welle zu trotzen. Ihn als Symbol für ihr neues Leben zu sehen, wäre kitschig, aber sie versucht es trotzdem.

Sein Flirt mit der Kellnerin gestern Abend hat ihr den Rest gegeben, ihre letzte Hoffnung zerstört, sie könnten wieder zueinander finden. Als hätte das jemals in einem ihrer Urlaube geklappt. Ein Lächeln, wie sie es seit fast 20 Jahren nicht mehr auf seinen Lippen gesehen hat, die Gier in seinem Blick. Sie saß daneben, nutzlos wie eine Bierkarte im Weinlokal, presste ihre Bestellung hervor, die Rechte zur Faust geballt, bis aus braungebrannten Knöcheln waffengleiche, weiße Zacken wurden. Eine schweigende Mahlzeit, wieder einmal. Während er die Datteln aus ihren Speckmänteln pulte, bevor er sie in den Mund schob, zerrten seine Augen der Kellnerin förmlich die Kleider vom Leib. Vernaschten sie, als säße seine Frau ihm nicht gegenüber.

‚Vorbei. Das tut er mir nie wieder an.‘

Ihr Magen knurrt. Sie greift in ihre große, schwarze Umhängetasche, wühlt zwischen hastig zusammengeworfenen Slips, BHs und T-Shirts, zieht die Tüte mit dem Brötchen hervor und ein längliches, silbernes Paket. Den Nachtisch. Erst graben sich ihre Zähne in den trockenen Brotteig, reißen Stücke heraus, die sie hinabschlingt, fast ohne zu kauen. Dann nimmt sie das Päckchen, zögert. Ihr Brustkorb hüpft auf und nieder wie vor langer Zeit im Hause ihrer Eltern, wenn sie ihre Geburtstagsgeschenke vor dem Auspacken betrachtet hat, stumm vor Aufregung. Sie streicht vorsichtig über die Alufolie, öffnet sie lächelnd. Es ist der Ringfinger. Der Schnitt ist sauber, wie mit einem Skalpell ausgeführt. Das Blut am Stumpf ist eingetrocknet, der Nagel abgekaut, links davon ein Hautfetzen.

‚Gepflegte Hände hatte er nie.‘