Eine Frau, zwei Ausweise (1/6)

Februar 2014

Sie hätte mir auffallen können. Vorher schon.

„Entschuldigung, das ist meine Tasche, ich gehe nur kurz vor die Tür.“ Die Frau mir gegenüber weist auf eine olivgrüne Handtasche mit silberner Schnalle, huscht aus dem Bus.

Ich schaue kurz die Tasche an, dann aus dem Fenster. Erst als der Bus anfährt, kehrt mein Blick zurück. Wo ist die Frau? Hat sie es nicht mehr geschafft, einzusteigen? War es Absicht? Was sollte das? Warum habe ich die Frau nicht genauer angesehen?

Zweite Julihälfte 2014

In meinem Job stelle ich viele Fragen. Als Redakteurin in einer Agentur für Öffentlichkeitsarbeit und Werbung schreibe ich heute Texte über Gesichtscremes, morgen über die öffentlichen Verkehrsmittel, übermorgen über Katzenfutter. Vielleicht ist das ständige Recherchieren unterschiedlicher Themen der Grund dafür, dass ich damals im Februar keine Fragen stellen wollte. Einfach etwas tun wollte, ohne es anzuzweifeln, ohne das letzte Detail herauszukitzeln.

*

Jetzt verhören mich die Kriminalkommissare. „Wann haben Sie die Tasche an sich genommen?“

„In welcher Buslinie, an welcher Haltestelle passierte es?“

„Können Sie die Frau beschreiben?“

„Was genau hat sie gesagt?“

Eine Frage kommt immer wieder. „Warum haben Sie den Bus mit der Tasche dieser angeblich fremden Frau verlassen?“

*

Warum habe ich das getan? Das frage ich mich ebenfalls. Mittlerweile. Ich kann es kaum beschreiben. Die Tasche stand auf dem Sitz mir gegenüber, der Bus kroch durch den Feierabendverkehr. Als er an der nächsten Station hielt, habe ich den Henkel gegriffen, bin zur Tür gehastet, hinausgesprungen. Das war wie ein Reflex. Plötzlich stand ich an einer Haltestelle, die ich nie benutzt hatte. In der Hand eine Tasche, die mir nicht gehörte, möglicherweise absichtlich im Bus gelassen von einer Frau, die ich nicht kannte. Ich bin keine Diebin. Trotzdem hatte ich nicht vor, die Tasche zum Fundbüro zu bringen. Hineinschauen wollte ich. Das war alles. Als der Bus angefahren war, habe ich die Handtasche aufgerissen und durchwühlt, als sei das selbstverständlich.

*

Haben Sie schon einmal nachgedacht über Momente, die Ihr Leben auf den Kopf stellen? Sie ahnen es in der Sekunde nicht, können den Zeitpunkt aber im Nachhinein genau benennen? Heute weiß ich, dass mein Griff nach den beiden Personalausweisen in der Handtasche ein solcher Moment war. Amelie Winter stand in dem einen, Jessica Schuster in dem anderen. Das Foto zeigte ein- und dieselbe Frau, vielleicht jene, die mich angesprochen und den Bus verlassen hatte. Die beiden Ausweise haben den Ausschlag gegeben. Der Zettel mit der Adresse und der Wohnungsschlüssel waren von zweitrangiger Bedeutung für mich.

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Kaum beantworte ich eine Frage, stellen die Kommissare mir weitere. Ich sitze da, sprachlos. „Sie wollen uns also erzählen, Sie hätten die Tasche einfach so durchsucht, wären grundlos in eine fremde Wohnung gegangen, nur, weil eine Frau, die Sie angeblich nicht kennen, einen Zettel mit der Adresse in der Tasche hatte?“

„Haben Sie sich keine Gedanken gemacht, als Sie die beiden Ausweise sahen?“

„Warum haben Sie nicht die Polizei eingeschaltet?

*

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Natürlich hätte ich zur Polizei gehen sollen. Aber als ich die beiden Ausweise in den Händen hielt, konnte ich es nicht. Wollte es nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich in meinem Leben zu oft die Erwartungen der anderen erfüllt habe. Vielleicht wollte ich einfach mal etwas eigenes tun. Nennen Sie es eine kleine Revolution. Statt über das Unrechtmäßige meines Tuns nachzudenken, sah ich mir die Frau auf dem Foto an. Stellte fest, dass sie mir ähnelte. Blonde, halblange Haare und eine dunkelrote Brille, wenngleich ich meine fast nie trage, seitdem ich die Kontaktlinsen habe. Ich hatte keinen Plan, als ich den Bus verließ, die Tasche öffnete. Ich wollte nicht in diese Wohnung gehen. Nur das Haus wollte ich sehen. Es war ein gelber Klinkerbau mit fünf Stockwerken. Ich guckte am Klingelbrett, in welchem Stock die Wohnung liegt, betrachtete die Fenster, überlegte, ob sie wohl zu der Wohnung gehören. Stellte mir vor, wie es drinnen aussehen könnte. Ich muss lange dort verharrt haben. Die 20-Uhr-Nachrichten waren schon vorbei, als ich nach Hause kam.

 

Teil 2 folgt am Mittwoch, den 24. Juni…