Eine Frau, zwei Ausweise (2/6)

Februar 2014

Meine Kollegin in der Agentur ist überrascht. „Lotte, mit Brille habe ich Dich ja schon lange nicht mehr gesehen. “

„Ich trage sie kaum noch, seit ich die Kontaktlinsen habe. Aber mir war vorhin danach zumute.“

Heute morgen die Brille aufzusetzen, war eine Art Reflex wie mein Griff nach der Handtasche vor einigen Tagen im Bus. Ich hatte nicht einmal vor, nach der Arbeit zu der Wohnung zu fahren. Dennoch stehe ich nun zum zweiten Mal vor dem Haus.

*

Es ist ein seltsames Gefühl, einen unbekannten Schlüssel in ein Schloss zu stecken, ohne zu wissen, was mich hinter der Tür erwartet. Ohne mich angemeldet zu haben. Wird ein Hund mir entgegenspringen, die Frau oder andere Menschen im Wohnzimmer sitzen, mich entgeistert anstarren, die Polizei rufen? Wird die Wohnung leer sein? Meine Handflächen sind feucht. Die Aufregung. Ich drehe den Schlüssel. Ein leichter Ruck, die Tür schwingt auf. Ich blicke auf einen kurzen Flur. Sehe eine Garderobe, einen Schirmständer, ein Schuhregal. Leer. Weiße Wände. Kein Ton. Ich stupse die Türen auf, die vom Flur abgehen. Wohnzimmer, Bad. Schleiche ins Zimmer, ziehe die Tür hinter mir zu. Schlafsofa, Sessel, Couchtisch, Fernseher, ein Regal mit Büchern, ein Balkon mit Liegestuhl. Keine Zeitschriften auf dem Tisch, kein Papier, keine Bilder an den Wänden. Der Teppich ist beige, er sieht unbenutzt aus. Die Wohnung liegt im zweiten Stock, durch das große Fenster und die Balkontür blicke ich auf die Straße, die gegenüberliegenden Etagenhäuser. Ich betrete die vom Wohnzimmer abgehende Küche. Weiße Schränke, hellgraue Arbeitsplatte, kein Geschirrspüler. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Alles ist sauber, aber nirgendwo liegt ein Lappen. Zurück ins Wohnzimmer. Ich setze mich auf das Sofa, möchte wissen, wie es sich anfühlen mag, in dieser Ein-Zimmer-Wohnung zu leben. Gleichzeitig bezweifle ich, dass hier ein Mensch wohnt. Plötzlich öffnet er die Tür. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich den Schlüssel im Schloss nicht gehört habe. Ein untersetzter Mann um die 40. Braune Haare.

„Ah, Amelie, schön, dass Du endlich da bist.“ Er reicht mir die Hand, lächelt. Stellt sich nicht vor.

Ich heiße Charlotte, meine Freunde und Kollegen nennen mich Lotte. Diesen Mann habe ich nie gesehen. Amelie steht in einem der beiden Ausweise aus der Handtasche. Ich spiele mit.

„Hallo“, umschiffe ich die Anrede. „Ich habe es nicht früher geschafft.“

„Seit Tagen warte ich auf Dich. Jetzt habe ich es leider eilig. Ich muss gleich wieder gehen.“

Ich erfahre, dass ich mich ab sofort täglich nach dem Büro für etwa zwei Stunden alleine in der Wohnung aufhalten soll. Es sei doch kein großer Umweg für mich vom Gewerbepark aus? Ich frage ihn nicht, woher er weiß, dass die Agentur dort sitzt. Warum er vorgibt, mich zu kennen. Warum er mich mit dem Namen aus dem Ausweis anspricht. Ich denke plötzlich an die Produktmanagerin des Kosmetikherstellers, die ich morgens mit Fragen gelöchert hatte. Welches ist die Zielgruppe der Creme, was bringt die Wirkstoff-Kombination, welche Botschaften soll die Marke transportieren? Lauter Informationen, die ich in meinem Text unterbringen soll. Lauter Antworten, die mich nicht im Geringsten interessieren. Den Mann in der Wohnung frage ich nichts. Ich nehme hin, dass ich ab und zu fernsehen, im Zimmer herumlaufen, bei schönem Wetter auf dem Balkon sitzen, mir etwas kochen, das Geschirr hinterher abwaschen soll. Ich erkundige mich nicht, warum ich dafür jeden Abend 100 Euro bekommen soll, abgelegt in einem Umschlag auf dem Tisch. Ich höre nur zu. Nicke.

„Ja, ich werde kommen.“

„Gut, Amelie. Ich wusste, dass ich mich auf Dich verlassen kann.“

 

März 2014

Ich kann kaum beschreiben, worin für mich der Reiz dieses Arrangements liegt. Auf dem Veloursfußboden sind mittlerweile Spuren. Der Mann ist abends nie wieder aufgetaucht, aber immer, wenn ich nach der Arbeit die Wohnungstür aufschließe, liegt ein Umschlag auf dem Couchtisch. 100 Euro pro Abend. Das sind 500 Euro pro Woche, 2.000 Euro pro Monat. Es mag verführerisch klingen, aber nicht das Geld lockt mich. In meiner Agentur verdiene ich passabel, für meine Ansprüche reicht es allemal.

An meinem ersten bezahlten Abend in der Wohnung wollte ich ein Buch aus dem Regal ziehen. Ich hielt eine Papp-Attrappe in der Hand. Das Gefühl, eine engagierte Schauspielerin in einer Musterwohnung zu sein, ist ebenso abstoßend wie spannend. Ich weiß nicht, wohin mich dieses Spiel führt. Vielleicht mache ich deshalb weiter.

 

Zweite Julihälfte 2014

„Was hat Sie dazu bewogen, fünfmal wöchentlich eine Ihnen angeblich unbekannte Wohnung aufzusuchen, nur weil Ihnen ein vermeintlich fremder Mann das aufgetragen hat?“

Wenn die Kommissare mir diese Frage stellen, klingt das Ganze irrsinnig. Ich frage mich gerade selbst, warum ich mitgespielt habe.

 

März 2014

„Du machst das toll, Amelie. DANKE.“

Diese Worte stehen auf dem Umschlag mit dem Geld. Die 100 Euro darin spielen eine untergeordnete Rolle. Das Lob zählt. Wann sind Sie das letzte Mal für das gelobt worden, was Sie täglich tun? In der Agentur ist das lange her. Wissen Sie, wie wichtig es ist, Anerkennung zu erhalten? Das steht bestimmt in jedem Ratgeber für Führungskräfte. Schade, dass mein Arbeitgeber es so selten anwendet. Sonst hätten mir diese Worte eines Unbekannten auf dem Umschlag nicht so viel bedeutet.

 

Teil 3 folgt am Freitag, den 26. Juni…