Zweite Julihälfte 2014
„Wir haben die Information bekommen, dass Sie sich am Tag des Attentats im nahe gelegenen Fünf-Sterne-Hotel aufgehalten haben. Warum sind Sie dort abgestiegen?“
Es regnet Fragen. Was hatte ich in Stuttgart zu tun? Warum habe ich das Hotel vier Tage lang kaum verlassen? Warum übernachte ich, die ich in einfachen Verhältnissen in Hamburg lebe, in einem Stuttgarter Luxushotel? Wer hat das bezahlt? Wen habe ich dort getroffen? Meine eigenen Fragen wage ich nicht, zu stellen. Was weiß die Polizei über mich? Und wer hat sie auf mich gebracht?
„Wir kommen immer wieder an einen Punkt, an dem Sie scheinbar sinnlose Anweisungen Ihnen angeblich unbekannter Personen ausführen. Das passt nicht zusammen. Entweder wussten Sie, was diese Anweisungen bedeuten, oder Sie kannten Ihre Auftraggeber. Reden Sie endlich!“
*
„Sehen Sie sich als ausführendes Werkzeug oder als denkenden Menschen?“
Ich versuche, den Kommissaren zu erklären, dass ich beides bin. Früher war ich neugierig, wollte alles wissen. Bis ich anfing, Geld mit meinen Fragen zu verdienen. Texte für Unternehmen zu schreiben, weil am Ende des Monats eine bestimmte Summe auf mein Konto geht. Wenn ein Einkommen auf die Dauer die einzige Form von Anerkennung ist, wenn Fragen letztlich nur noch dazu dienen, ein Gehalt zu kassieren, verschwindet irgendwann meine Wissbegierde. Ich lege sie nach der Arbeit ab wie den Anzug nach einem Kundentermin. Keine Fragen stellen zu müssen, anzunehmen ohne anzuzweifeln, das ist ein Gefühl, als zöge ich eine bequeme Jeans an.
Wenige Tage später
Manchmal glaube ich, es wäre ein böser Traum. Ich habe eine Anklageschrift bekommen, in der von einer notwendigen Verteidigung die Rede ist. Ich werde verdächtigt, das Stuttgarter Attentat begangen zu haben. Es heißt, ich möge einen Verteidiger meiner Wahl benennen, andernfalls werde mir ein Pflichtverteidiger durch das Gericht bestellt. Pflichtverteidiger. Ich habe doch gar nichts getan! Gut, ich habe fünf Monate lang jeden Wochentag von etwa 18 bis 20 Uhr in dieser Wohnung verbracht. Dort gegessen, mein Geschirr abgewaschen, ferngesehen, ab und zu auf dem Balkon gesessen. Alleine. Gut, ich habe dafür Geld genommen. Na und? Ich habe nichts Verbotenes getan. Woher soll ich wissen, wer die Frau und der Mann waren, welche Absichten sie hatten? Ich bin unschuldig. Ich habe doch nur das gemacht, wofür diese Leute mich engagiert haben. Und das war kein Verbrechen.
Ende Juli 2014
Heute Morgen habe ich mich übergeben. Ich habe mir den Finger in den Hals gesteckt und gekotzt, bis die Galle kam. In den Gerichtssaal haben sie mich trotzdem gebracht. Blitzlicht. Ein Heer von Kameras auf dem Weg zur Verhandlung. Ich halte mir eine Mappe vors Gesicht, fühle mich nackt. Mit meinem Pflichtverteidiger habe ich nicht gesprochen. Ich habe nichts getan, wofür ich einen Verteidiger bräuchte.
Im Laufe des ersten Prozesstages sehe ich den Mann wieder, der Amelie eine nette Botschaft auf den Umschlag geschrieben hatte. Im Zeugenstand legt er dem Gericht einen Mietvertrag vor, unterzeichnet von Amelie Winter. Es ist ein Vertrag für eine möblierte Ein-Zimmer-Wohnung in Hamburg, abgeschlossen vor fünf Monaten, und die Miete ist für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt worden. In bar. Das sei ihm gleich aufgefallen, sagt der Mann aus.
Er lügt. Ich habe diese Wohnung niemals offiziell gemietet, geschweige denn dafür gezahlt.
Was redet der Kerl? Seine Lebensgefährtin hatte ein seltsames Erlebnis mit Frau Winter, aber das werde sie ja sicherlich noch persönlich erzählen. Frau Winter habe sich seiner Frau als Jessica Schuster vorgestellt.
„Erst das ganze Bargeld, dann die beiden Namen. Von diesem Moment an haben wir Frau Winter oder Schuster beobachtet, die kam uns verdächtig vor.“ Jetzt starrt er zu mir, unverwandt.
Später erscheint die Frau vor Gericht, die Frau, die mir den Umschlag mit den Reiseunterlagen für Stuttgart gegeben hatte. Ich erkenne sie sofort, obwohl ihr Haar jetzt dunkelbraun ist, und sie keine Brille mehr trägt. Sie erzählt von ihrer Irritation angesichts meiner Vorstellung als „Jessica Schuster“. Schließlich wisse sie von ihrem Mann, dass ich Amelie Winter heiße.
Mein Pflichtverteidiger verzieht keine Miene. Als ich den Kopf auf den Tisch lege, weil ich diese Lügen nicht mehr ertrage, bittet er das Gericht, die Fortführung des Prozesses zu verschieben. Seine Mandantin fühle sich heute nicht wohl.
*
Ich denke an die drei Verletzten, an ihre Familien. An die selbst gebastelte, mit Hilfe eines Handys gezündete Bombe, die in einem Blumenkübel versteckt gewesen sein soll, an die Katastrophe, die sie hätte auslösen können, wären noch mehr Menschen im Gastraum gewesen. Der Prozess soll morgen fortgesetzt werden. Mit meinem Pflichtverteidiger spreche ich noch immer nicht. Es bedeutete für mich, eine Rolle zu akzeptieren, in der ich mich nicht sehe.
Teil 5 folgt am Mittwoch, den 1. Juli…