Eine Frau, zwei Ausweise (5/6)

August 2014

Ich sage die Wahrheit, aber niemand scheint mir zu glauben. Zeugen wollen mich am Tatort gesehen haben. In dem Stuttgarter Restaurant, eine halbe Stunde vor dem Attentat. Es existiert auch ein Foto, das mich dort zeigt. Zeigen soll. Eine Frau von der Seite, Brille, blonde, halblange Haare. Die Frau in dem Ausweis, und somit wohl ich. Aber das kann nicht sein. Wer hat dieses Bild aufgenommen? Warum?

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Ich war niemals in dem Restaurant, in dem die Bombe explodierte. Trotzdem hat die Polizei in dem Lokal Geschirr und Besteck mit meinen Fingerabdrücken sichergestellt. Angeblich ist kein Zweifel möglich. Ich habe das von meinem Pflichtverteidiger erfahren, mit dem ich mittlerweile rede. Er hat mir Fotos der Fundstücke gezeigt. Weißer Porzellanteller, Edelstahlbesteck, Wasserglas. Allerweltssachen, wie sie auch in der Küche der Ein-Zimmer-Wohnung standen, die ich monatelang besucht habe. Wann endet dieser Albtraum endlich?

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„So kommen wir nicht weiter.“ Das hat mein Pflichtverteidiger heute schon mehrmals gesagt. Er versucht, mit mir zu rekonstruieren, wann genau und warum ich in dem Restaurant war. Wo ich gesessen habe, was gegessen, wann ich gegangen bin. Warum ich den mit einem Schwarzpulver-Gemisch gefüllten Sprengkörper und das Handy für die Fernzündung nicht dort deponiert habe, nicht haben kann, obwohl ich gemäß Zeugenaussage neben dem Blumenkübel gesessen habe, in dem die Bombe eine halbe Stunde später explodierte.

Ich war nicht dort. Weiß ich. Glaube ich, zu wissen. Vermute ich. Ich. War ich dort? Warum?

Er schaut mich an, ist der Einzige, der zu mir hält in diesem Lügengewirr. Der Pflichtverteidiger kann mich hier rausholen. Ich muss nur kooperieren.

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Die Kündigung kommt nicht überraschend. Der Umschlag erreicht mich in der Untersuchungshaft.

„Sehr geehrte Frau“ statt „liebe Charlotte“. Ich gehöre seit fünf Jahren zum Team, bin jetzt außen vor. Eine Mitarbeiterin, die man siezt, eine, der man eine Kündigung schickt. Einfach so, ohne jede Begründung. Ob das vor einem Arbeitsgericht überhaupt Bestand hätte? Der Agentur geht es gut, und einen Fehler habe ich nicht gemacht. Ich bin ohne eigenes Verschulden vorläufig festgenommen und nach richterlichem Beschluss in U-Haft gesteckt worden. Irgendjemand will mir ein Attentat mit drei Verletzten anhängen, hat falsche Beweisstücke deponiert, und Zeugen haben anscheinend meine Doppelgängerin gesehen, nicht mich. Vermutlich stecken der Mann und die Frau hinter alledem. Aber ich bin unschuldig. Die Agentur darf mich nicht rauswerfen, bloß weil ich in diese Geschichte verstrickt bin. Meine ich. Klagen könnte ich dagegen. Aber möchte ich das überhaupt? Seit ich abends in diese Wohnung gefahren bin, habe ich im Büro Dienst nach Vorschrift gemacht, war mit den Gedanken woanders. Will ich nach den Monaten in meinem zweiten Leben wieder voll in den Arbeitsalltag einsteigen?

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Die nächste Zeugin ist meine beste Freundin. Die Frau, die ich für meine beste Freundin hielt. 15 Jahre lang. Bis vor wenigen Minuten.

Sie hat sich verändert, höre ich. Lotte habe sich in den vergangenen Monaten komplett zurückgezogen. Das war so gar nicht Lottes Art, weiß die Frau. Natürlich hat die Frau ihre beste Freundin noch einige Male angerufen, höre ich. Aber sie war seltsam, verstockt, erzählte nichts von sich. Höre ich. Und noch einiges mehr. Da erfahre ich, dass ich gelogen hätte in den vergangenen Monaten, mich in Widersprüche verstrickt. Dass mein Verhalten mit anderen, gemeinsamen Freundinnen diskutiert worden und auch ihnen sehr merkwürdig erschienen sei. Dass ich eine Art Wut in mir getragen habe, höre ich. Hass möchte die Frau, die meine beste Freundin war, es nicht nennen – wie freundlich – aber Wut sei schon das richtige Wort. Auf das Leben, die anderen, Wut auf die eigene Person, lerne ich über mich. Ja, es sei Lotte durchaus zuzutrauen, so eine grauenvolle Tat, höre ich. Natürlich habe sie mit so etwas Schrecklichem niemals gerechnet, aber jetzt werde ihr einiges klar. Das Attentat hätte vielleicht verhindert werden können, höre ich, aber das sei nur eine Vermutung, nur ein verzweifelter Versuch dieser Frau, die ich nicht mehr kenne, mit der Wahrheit umzugehen. Mir wird schwarz vor Augen.

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Ich schreie ihn an, will ihn schlagen, ins Gesicht. Bevor meine Fäuste die Pflichtverteidiger-Visage treffen, dreht er sich um. Geht zur Tür. „Es reicht.“

Der Verteidiger hatte mir gesagt, die Indizien sprächen gegen mich. Ich hätte mich zum Tatzeitpunkt in Stuttgart aufgehalten, sei am Tatort gesehen worden, zudem seien ein Teller, Glas und Besteck mit meinen Fingerabdrücken sichergestellt worden. Ich hätte eine Zweitwohnung in meinem Wohnort Hamburg angemietet, und man könnte mir unterstellen, ich hätte das Attentat von dort aus vorbereitet. Für die beiden Ausweise hätte ich zwar eine Erklärung, aber diese könnte vor dem Hintergrund der Ereignisse für konstruiert gehalten werden. Mein verändertes Verhalten sei meinen Freunden aufgefallen, und auch Kollegen hätten ein für mich untypisches Desinteresse an der Arbeit bemerkt. Unklar sei nur mein Motiv. Er beobachte auf meiner Seite keinerlei Kooperationsbereitschaft, und das erschwere seine Verteidigung. Ob ich mir darüber im Klaren sei? Dann habe ich losgeschrieen. Nun sitze ich wieder alleine in meiner Zelle.

 

Teil 6 folgt am Freitag, den 3. Juli…