Eine Frau, zwei Ausweise (6/6)

Ende August 2014

Blasser und blasser werden, sich in Luft auflösen. Davon schweben. All diese Menschen vor Gericht niemals wieder sehen müssen. Mich nicht mehr unter anklagenden Blicken krümmen. Glaubhaft versichern dürfen, dass ich bereue, was ich in meiner Dummheit half, vorzubereiten.

Anfang September 2014

Einstieg eines Zeitungsartikels:

„Überraschendes Geständnis im Prozess um das Attentat von Stuttgart: Die Angeklagte Charlotte K. aus Hamburg hat eingestanden, am 10. Juli 2014 ein Bombenattentat in einem Stuttgarter Restaurant verübt zu haben, bei dem drei Menschen verletzt worden sind. Das Gericht hat sie zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Es wertet die Tat als versuchten Mord.“

 

Heute

Stille. Die Aufnahme stoppt. Meine Kehle ist ausgetrocknet vom Lesen. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, leere es in einem Zug. Dann ein zweites. Die anderen schauen mich so verstört an, als säße ihnen diese Charlotte tatsächlich gegenüber. Ich fühle mich selbst merkwürdig. Betroffen, alleine gelassen, schuldig, obwohl ich nur die Sprecherin bin, und die Frau eine fiktive Person. Nachher wird das Team meine Stimme und ein paar Geräusche zusammenschneiden und ein Hörspiel für den Schulunterricht daraus produzieren. Es soll Schülern zeigen, wie wichtig es ist, die Dinge zu hinterfragen.

*

Auf dem Heimweg vom Tonstudio ergattere ich den letzten freien Sitzplatz im Bus. Ich betrachte die anderen Fahrgäste und versuche, mir ihre Gesichter einzuprägen. Jedes einzelne.