Ich kann mich nicht auf die Gespräche bei Tisch konzentrieren. Wortketten gleiten an mir vorbei, ohne mein Trommelfell anzustupsen. Mein Körper sitzt noch zwischen dem Meilenkontoverwalter zu meiner Rechten und dem Golfspieler zur Linken, die wie alle anderen die Aussicht auf den Fluss loben, aber meine Gedanken sind längst durch die Räume des Fischrestaurants gehüpft zur Tür. Über die Schwelle, an die Elbe. Sie sind am Ufer entlang getänzelt bis zu jenem Strauch. In seinen Zweigen hängt sie, die Federboa, wie an einem blättrigen Kleiderständer. Ihre Federn sind fein und dunkelrot. Bestimmt sind es gefärbte Straußenfedern. Die Boa ist hochwertig, das habe ich auf Anhieb erkannt, kein fusseliges Etwas für den Karneval, das nach dem ersten Tragen so viele Federn verliert wie ein Vogel in der Mauser. Ich fühle sie förmlich an meinem Hals, ihre Federn kitzeln. Wie mag sie in das Gebüsch gekommen sein? Wem gehörte sie? Ich könnte mir eine Federboa kaufen, unzählige sogar, aber das ist nicht, was ich will. Diese hat einen ganz besonderen Reiz für mich, ich kann es nicht erklären. Als ich die Boa vor einigen Tagen entdeckte, habe ich mich nicht getraut, sie aus den Zweigen zu holen. Warum habe ich die Sonntagsspaziergänger an der Elbe nicht ignoriert, bin die Steine hinunter zum Wasser geklettert und habe die Federboa befreit? Stattdessen bin ich auf dem Parkplatz am Ufer auf und ab getigert, immer wieder an dem Strauch vorbei, der Wächter in seinem kleinen Wohnwagen hat mich bestimmt bemerkt. Ich habe vor der Boa gestanden, so als wollte ich das Dock am gegenüberliegenden Ufer betrachten, die Luxusyacht darin, so als sei ich einer der unzähligen Touristen, die den besten Schnappschuss jagen. Wenn ich die Augen schließe, umspielt die Federboa meine Schultern, dazu trage ich ein schwarzes Abendkleid und hohe Schuhe. Diese ewigen Geschäftsessen mit all den Anzugträgern wären dann weit weg, eine Diva wäre ich, und sei es nur in meinem Haus. Hätte ich die Boa doch mitgenommen! Vielleicht hätte mich niemand gesehen. Und wenn, könnte dieser Mensch auch gedacht haben, ich wollte sie verschenken.
„Darf ich Ihnen gleich Ihr Dessert servieren oder möchten Sie noch ein wenig warten?“
Diese Worte glaube ich, schon einmal gehört zu haben, vor wenigen Sekunden oder Minuten, ohne auf ihren Sinn zu achten. Ich öffne die Augen. Neben mir steht eine Kellnerin, und falls sie mir die Frage tatsächlich zum zweiten Mal gestellt haben sollte, lässt sie es sich nicht anmerken.
„Danke, ich warte noch einen Moment.“
Ein Blick auf mein Gegenüber, auch ich lockere die Krawatte. Plötzlich steht mein Körper auf, schlendert auf das Toilettenschild zu, solange er im Blickfeld der Geschäftspartner ist, und diesem kaum entwischt, eilt er zum Ausgang des Restaurants. Überrascht sehe ich ihm nach, so schnell ging das Ganze. Diesmal sind meine Gedanken am Tisch geblieben, perplex, sie beobachten, wie der Mann in der schmal geschnittenen, schwarzen Hose und dem weißen Hemd den Raum durchquert und verschwindet. Ein Zögern, dann stürzen meine Gedanken meinem Körper hinterher. Vereint.
Auf der Straße schreite ich erneut den Weg entlang, den ich eben schon in meiner Fantasie zurückgelegt habe, reiße mir den rotgemusterten Seidenstrick vom Hals, werfe ihn in die Büsche am Ufer, gehe weiter in Richtung Federboa. Soll der Parkplatzwächter denken, was er will, sollen die Spaziergänger spekulieren, worüber sie wollen, sollen sie doch alle lachen über Dinge, die sie nichts angehen. Ich öffne den oberen Hemdknopf, den zweiten, den dritten. Endlich Luft. Ein Moment der Angst, ich sei zu spät gekommen und sie fort, da sehe ich die dunkelrote Boa im Geäst. Und plötzlich kommt mir in den Sinn, sie könnte einem anderen Menschen gehört haben, der seine Federboa einem Impuls folgend ins Gebüsch geschleudert hat so wie ich meinen Schlips. Drei, vier Schritte zum Wasser, Ledersohlen kratzen auf Ufersteinen. Ich greife in die Federn. Lächele. Zum ersten Mal an diesem Tag.