Mittlebensgespenster

Dpb.Uhr

Vögel beobachten, bestimmen, zählen. Ein Naturschutzpraktikum auf einer unbewohnten Insel, drei Monate lang. Was für ein kurioses Angebot. Die Leute hatten es ihr vor Kurzem auf dem Sommerfest ihrer Agentur gemacht, als stünde sie nicht mitten im Job, als sei sie nicht zu alt für ein Praktikum, als sei sie kein Großstadtgewächs. Die Frau schüttelt den Kopf, glättet ihren Rock. Drei Monate in der Einöde. Ausgerechnet sie! „Mittlebensgespenster“ weiterlesen

Restzweifel

Doppelb Wolken

Die Frage, was wäre, wenn die Wolken vom Himmel fielen, konnte ihm in seiner Kindheit niemand beantworten. Weder sein Vater, der ihn immer mit zum Angeln an den großen Fluss nahm, noch seine Mutter, noch sein bester Freund. In der Schule hat er die Antwort irgendwann gelernt. Die Wolken plumpsen nicht hinab, sondern kommen als Regen, Hagel oder Schnee zur Erde. Doch ein Restzweifel ist geblieben.

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Fragen stellen

Doppelbel Welle

Er öffnet die Augen. Diese Wassermassen! Eben noch sah es so aus, als wollten sie alles Feste fortspülen. Seine Bettdecke mitreißen, seinen angstschweißnassen Körper wie ein Stück Holz wegschwemmen, um die eigene Achse wirbelnd. Drei Uhr zehn. Rote Digitalziffern leuchten neben seinem Kopfkissen.

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Endlich Luft

Ich kann mich nicht auf die Gespräche bei Tisch konzentrieren. Wortketten gleiten an mir vorbei, ohne mein Trommelfell anzustupsen. Mein Körper sitzt noch zwischen dem Meilenkontoverwalter zu meiner Rechten und dem Golfspieler zur Linken, die wie alle anderen die Aussicht auf den Fluss loben, aber meine Gedanken sind längst durch die Räume des Fischrestaurants gehüpft zur Tür. Über die Schwelle, an die Elbe. Sie sind am Ufer entlang getänzelt bis zu jenem Strauch. „Endlich Luft“ weiterlesen

Minutenreise

Die himbeerfarbene Reisetasche habe ich im Internet ersteigert, sie war gar nicht teuer, würde sie nur nicht so stinken. Nach Urin oder Fischöl, womit auch immer das Leder bearbeitet worden ist. Ich wollte sie anfangs  zurückschicken, aber ich mochte die Farbe. Himbeerrot ist für mich Sommer, Wärme, Leidenschaft. Ein paar Klamotten für die Reise habe ich hineingeworfen, die Tasche mit in die Bäckerei genommen, und bin einfach abgehauen, als meine Chefin kurz hinten war. Am Hauptbahnhof bin ich in irgendeinen Zug gesprungen, habe mich vor der Schaffnerstimme auf der Toilette versteckt. „Minutenreise“ weiterlesen

Morgen eine Yucca Palme

Es dauert lange, das grüne L zu zertrümmern. Ich dachte, es ginge schnell, ein Wurf auf unseren Linoleumfußboden, ein Tritt auf die beiden hohlen Plastikbalken, und es zerspringt in tausend Stücke, aber es ist hartnäckiger. Hält scheppernd dem Aufprall stand, ignoriert meinen Fuß. Ich nehme den Hammer, schlage auf die grüne Oberfläche. Nachbarsohrenstörend hämmere ich, immer wieder, sekundenlang, minutenlang scheint es mir, bis zum ersten Riss. „Morgen eine Yucca Palme“ weiterlesen

Vergessen

Ich sitze in einer Barke, umhüllt von meiner warmen Decke, treibe im Wasser. Um mich herum Menschen. Von ferne höre ich ihre Stimmen, sehe ihre Gesichter. Sie öffnen und schließen die Münder wie Karpfen. Den haben wir früher immer zu Weihnachten gegessen. Karpfen mit Petersilienkartoffeln, dazu einen Klacks Butter. Der Festtagsgeschmack steigt noch heute auf meine Zunge, wenn ich daran denke. Ich versuche, meine Augen offen zu halten, und blicke in Richtung Karpfengesichter. „Vergessen“ weiterlesen

Kaffee mit Wasser

Wenn ihre Hand vor 30, 40 Jahren unter dem Kinn ruhte, und das tat sie oft in dem Café, dann nur, um dem Gesicht ein Podest zu geben. Der Adlernase, den Bögen über ihren blauen Augen. Heute liegen die Finger über dem Mund der Frau, kaschieren die Risse der Zeit, die ihre grellroten Lippen umrahmen. Die Ellenbogen aufgestützt, sitzt sie in dem Café, starrt ins Leere. Zurück in der Stadt. Daheim. Einige Tische sind besetzt, am Tresen warten Menschen. Ist das noch ihr altes Lokal, ihr zweites Zuhause? „Kaffee mit Wasser“ weiterlesen