Minutenreise

Die himbeerfarbene Reisetasche habe ich im Internet ersteigert, sie war gar nicht teuer, würde sie nur nicht so stinken. Nach Urin oder Fischöl, womit auch immer das Leder bearbeitet worden ist. Ich wollte sie anfangs  zurückschicken, aber ich mochte die Farbe. Himbeerrot ist für mich Sommer, Wärme, Leidenschaft. Ein paar Klamotten für die Reise habe ich hineingeworfen, die Tasche mit in die Bäckerei genommen, und bin einfach abgehauen, als meine Chefin kurz hinten war. Am Hauptbahnhof bin ich in irgendeinen Zug gesprungen, habe mich vor der Schaffnerstimme auf der Toilette versteckt. Hinaus an einer namenlosen Haltestelle, ich habe auf das Bahnhofsschild geblickt, ohne die Buchstaben in meinem Kopf zu ordnen, ohne meinen Orientierungssinn zu füttern. Nun lasse ich mich treiben, schlendere durch unbekannte Straßen. Vorbei an Familienburgen mit Geranienwällen, an parkenden Mütterthronen und Väterträumen, immer weiter, bis die Straßen leerer werden, breiter. Ich sehe riesige Wellblechkästen hinter hohen Zäunen, verschlossene Gittertore, Lastwagen neben den Bordsteinen, kaum benutzte Bürgersteige, irgendeine samstägliche Firmenwüste, wie ich sie auch aus meiner Stadt kenne. Plötzlich tauchen rechts und links Läden auf, sie sehen aus wie kleine Märkte mit Waschmaschinen, Kinderrädern, Anoraks davor, palettenweise Kundenglück, bewacht von Menschen, die auf abgewetzten Sofas zwischen den parkenden Lkw sitzen. Heimelig wirkt diese käuferfreie Verkaufsschau, die Leute vor den Geschäften reden miteinander, sie beachten die Frau mit der himbeerfarbenen Reisetasche nicht, so als sähen sie ihr an, dass sie nichts kaufen wird. Vielleicht fände ich hier sogar rote Ledertaschen ohne nasenfeindliche Aromen, wenn ich lange genug danach suchte, aber ich gehe weiter, denke über keinen Schritt nach. Will nirgendwo hin, niemals ankommen, will nicht schlafen aus Angst, meine Augen könnten Bilder versäumen. Kann nicht ruhen, denn wie innehalten, wenn ich rastlos einen Fuß vor den anderen setze.

„Nellie, wenn Du nichts zu tun hast, kannst Du die Krümel vom Tresen wischen. Oder ein paar Käse- und Salamibrötchen schmieren. Und bring doch mal Deine Reisetasche nach hinten!“

Bruchlandung in der Wirklichkeit, genannt Bäckerei. Ich greife einen Lappen, wische den Tresen ab. Wussten Sie, wie weit man in einer Minute reisen kann, ohne sich vom Fleck zu bewegen?