Mittlebensgespenster

Dpb.Uhr

Vögel beobachten, bestimmen, zählen. Ein Naturschutzpraktikum auf einer unbewohnten Insel, drei Monate lang. Was für ein kurioses Angebot. Die Leute hatten es ihr vor Kurzem auf dem Sommerfest ihrer Agentur gemacht, als stünde sie nicht mitten im Job, als sei sie nicht zu alt für ein Praktikum, als sei sie kein Großstadtgewächs. Die Frau schüttelt den Kopf, glättet ihren Rock. Drei Monate in der Einöde. Ausgerechnet sie! Die Agentur käme nicht einmal drei Wochen ohne sie aus. Lächerlich. Sie starrt in den Himmel, Mittagspause an der Elbe. Von hier aus kann sie die Uhr am Anleger nicht sehen, aber das Zifferblatt ist ihr in die Wolken gefolgt. Wieder denkt sie an die Unterhaltung bei der Feier.

„Es kommt mir so vor, als habe Ihr letztes Sommerfest erst vor wenigen Wochen stattgefunden“, hatte der Mann gesagt. Und seine Begleiterin hatte gefragt, ob auch sie das Gefühl habe, die Zeit verginge immer schneller, je älter sie werde. Silvestergespräche mit Fremden, mitten im Juni. Als die beiden ihr unvermittelt den Praktikumsplatz anboten, dachte sie ‚Niemals.‘ und erbat sich Bedenkzeit. Der Höflichkeit halber. Eine Rede ihres Geschäftsführers rettete sie vor der Konversation.

Doch der Gedanke an das Lebenstempo schleicht seitdem immer wieder in ihren Kopf, lauert auf jedem Zifferblatt am Straßenrand. Sie grübelt. Schienen die Sommerferien in ihrer Kindheit nicht ein Jahr lang zu dauern? Heute fliegen zwölf Monate vorüber, als seien es sechs Wochen. Ob eines Tages sechs Jahre im Rückblick auf wenige Monate oder Wochen schrumpfen werden? Wissenschaftler erklären das unterschiedliche subjektive Zeitempfinden mit den neuen Eindrücken und Erlebnissen, die auf Kinder einprasseln, und der Routine im Alltag der Erwachsenen. Die Frau auf der Bank braucht keine Theorie, sie nennt es Mittlebensgespenster und wünscht, sie hätte die Sommerfeier ihrer Agentur nicht besucht. Vögel zählen auf einer unbewohnten Insel. Wer hatte diese Leute überhaupt eingeladen? Sie denkt an die Holzhütte, in der sie auf dem Eiland leben sollte, das wöchentliche Versorgungsboot, an menschenleere Strände, das Wasser, an Parkawetter, Gummistiefel. Denkt an den Kundentermin heute Nachmittag, die Präsentation nächste Woche, an die Überstunden, ihr schlechtes Mittagspausengewissen. An selbstbestimmte Tage, eine neue Aufgabe. Die Frau schließt die Augen, und vor lauter Sonnenlicht erscheint das Schwarz unter ihren Lidern orange. Plötzlich rauscht es, erst ganz leise, dann schwillt der Ton an, als plätscherte vor ihr nicht die Elbe gegen die Kaimauer, sondern als stünde sie bereits am Meer. ‚Eigentlich sind meine Pumps ziemlich unbequem.‘